Gedenken
Das Schicksal der Schüler und Lehrer
von Petra Ihm-Fahle
Schon lange wollte ich etwas über das Buch "Juden und jüdische Kurgäste in Bad Nauheim und Steinfurth" schreiben. Heute erscheint mir die richtige Gelegenheit, denn am 9. November vor 82 Jahren begannen die Novemberpogrome gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger. Auch in Bad Nauheim, wo die Ausschreitungen auf den 10. November fielen.
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Wandmalerei der ehemaligen Jüdischen Bezirksschule, wiederentdeckt 2009 (Foto: Petra Ihm-Fahle) |
Wegen der Corona-Krise fallen die Gedenkveranstaltungen aus, aber virtuell sind Beiträge möglich, etwa der geplante Livestream um 18 Uhr der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Wetterau um Britta Weber, Manfred de Vries und Dr. Peter Noss. Friederike Müller wird aus einem Buch von Etty Hillesum lesen, eine jüdische Niederländerin, die in Auschwitz ermordet wurde.
Das Buch, mit dem ich mich nun befasse, "Juden und jüdische Kurgäste in Bad Nauheim und Steinfurth", ist dies Jahr erschienen. Autor ist Hanno Müller aus Fernwald mit dem Co-Autor Lothar Tetzner. Es ist eine umfangreiche Dokumentation aus vier verschiedenen Familienbüchern: für Bad Nauheim, die verstorbenen Kurgäste, die sogenannten Displaced Persons und Steinfurth. Grußworte von Bürgermeister Klaus Kreß, Manfred de Vries (Vorsteher Jüdische Gemeinde Bad Nauheim) und ein Vorwort von Stadtarchivarin Brigitte Faatz sind enthalten.
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Bürgermeister Klaus Kreß, Hanno Müller und Stadtarchivarin Brigitte Faatz (Foto: Stadt Bad Nauheim) |
In dem Buch blieb ich an einer Textstelle hängen. Im hinteren Teil des 469 Seiten starken Werks erzählen Juden, die einen Bezug zu Bad Nauheim hatten, ihre Geschichte. So stieß ich auf das traurige Schicksal der Sonja Wohlgeruch und ihrer Familie, wiedergegeben von ihrem Neffen Peter Schuller.
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Blick in das Buch "Juden und jüdische Kurgäste in Bad Nauheim und Steinfurth", hier Familie Wohlgeruch. (Repro: Petra Ihm-Fahle) |
Die damals sechsjährige Sonja besuchte 1938 das jüdische Kinderheim in der Frankfurter Straße, wo heute die Sophie-Scholl-Schule angesiedelt ist. Am 10. November, es war ein Donnerstag, marschierte laut dem Zeitzeugen Siegfried Oppenheim SS in die Schule ein (ausführlich in Stephan Kolb: Die Geschichte der Bad Nauheimer Juden, ab S. 162). Die Nazis verhafteten alle Personen über 15 Jahren und brachten sie ins Gefängnis. Es waren etwa 20 Männer. Während des Transports zum Gefängnis soll der Kassierer der Schwimmanstalt gerufen haben: "Schlagt die Kerle tot." Die Kinder, circa 150, wurden auf den Hof des Polizeigebäudes gebracht. Währenddessen brannten die Nazis Büro, Lehrerzimmer und Schulzimmer aus.
Tags darauf wurden die Lehrer mit einem Ausflugsauto vom Gefängnis aus abtransportiert. Ein ähnlicher Transport mit Juden aus Friedberg stand ebenfalls dort; es könnte laut Hessischer Denkmaltopografie die Johannisstraße 3 gewesen sein, gleich neben der Alten Feuerwache.
Oppenheimer: "Die Bevölkerung von Bad Nauheim füllte die Straßen und Bürgersteige. Sie verhielt sich mäuschenstill wie bei einer Beerdigung. Ich schätzte, dass weit über 1000 Menschen anwesend waren. In Friedberg dagegen erhob sich, wie uns unsere 'Kollegen' von dort erzählten, beim Verladen ein furchtbares Johlen und Schreien: 'Hängt die Kerle auf, stellt sie an die Wand.'" (Kolb, Geschichte der Bad Nauheimer Juden)
Die kleine Sonja Wohlgeruch erlebte das nicht mehr mit. Ihre Familie, die in Gießen lebte, sollte bereits im Oktober desselben Jahres nach Polen ausgewiesen werden. Nur der Mutter Pesla erlaubte man zunächst, zu bleiben, um Dinge wie den Hausverkauf zu regeln.
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Hanno Müller und Lothar Tetzner: Juden und jüdische Kurgäste in Bad Nauheim und Steinfurth (Repro: Petra Ihm-Fahle) |
Kaum waren der Vater Josef und die ältere Tochter Henny von Gießen abgereist, wurde Mama Pesla abgeholt - auch sie sollte ausreisen. In Bad Nauheim wurde Sonja aus der jüdischen Schule geholt und zur Polizei in Gießen gebracht. Pesla Wohlgeruch und ihre kleine Tochter mussten nach Warschau, wo sich ihre Spur verliert.
Der Vater und Henny hingegen wurden nach einer mehrtägigen Zugreise an der Grenze zu Polen abgewiesen und mussten zurück nach Gießen. Lange probierten sie, Pesla und Sonja wieder zurückzuholen, doch vergebens. Schließlich gelang es ihnen, nach London auszureisen. Beide überlebten den Holocaust, Pesla und Sonja wurden ermordet.
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Wandmalerei der ehemaligen Jüdischen Bezirksschule, wiederentdeckt 2009 (Foto: Petra Ihm-Fahle) |
2009 besuchte ich die Sophie-Scholl-Schule, die in der ehemaligen Jüdischen Bezirksschule angesiedelt ist und damals saniert wurde. Dabei waren unter dem Putz Wandmalereien aufgetaucht, die aus der Zeit der jüdischen Bezirksschule stammen. Ich sollte einen Artikel darüber schreiben. Es sind Bilder, die eine heile Welt vermittelten. Von Wichteln und Zwergen, spielenden Kindern.
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Wandmalerei der ehemaligen Jüdischen Bezirksschule, wiederentdeckt 2009 (Foto: Petra Ihm-Fahle) |
Diese Bilder hat auch Sonja gesehen. Wie alt sie wurde, ist nicht bekannt.
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Wandmalerei der ehemaligen Jüdischen Bezirksschule, wiederentdeckt 2009 (Foto: Petra Ihm-Fahle) |
Weitere Infos zur Geschichte der Bad Nauheimer Juden gibt es auf der Homepage www.holocaust-erinnerungsmal-badnauheim.com.
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